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# ironie: an

Anleitung für Misserfolg im Studium

"Anleitung zum Unglücklichsein" endlich übersetzt auf das Studium im Jahr 2020

Nach langer Mühe ist es jetzt Wissenschaftlern der Freien Universität Berlin gelungen, Paul Watzlawicks hoch geschätzte "Anleitung zum Unglücklichsein" über die Selbstvereitelung allgemeinen Lebensglücks auf die spezifischen Anforderungen eines Studiums zu übertragen: Wie kann man verhindern, dass sich bei einem Studium ein Glücksgefühl oder Bildung einstellt?

"Es war immer klar, dass das gehen muss," berichtet Prof. Dr. Lutz Prechelt, Studiendekan des Fachbereichs Mathematik und Informatik, "aber erst die besonderen Bedingungen des Online-Studiums während der Corona-Pandemie haben zum entscheidenden Durchbruch geführt, zu erkennen, wie das einleuchtend zu vermitteln ist. An sich ist es ganz einfach."

Wir dokumentieren heute das vollständige Konzept:

Definition: Misserfolg im Studium ("Studien-Misserfolg")

Studien-Misserfolg in unserem Sinne ist nicht durch einfaches Nichtstun zu erreichen.

Sondern: Studien-Misserfolg bedeutet, sich trotz erheblicher studienbezogener Aktivität und subjektiver Anstrengung (oder jedenfalls Angestrengtheit) so zu verhalten, dass folgende drei Bedingungen eintreten:

  1. Stockender Fortschritt in Richtung Studienabschluss:
    Bestandene Module wechseln sich ab mit nicht bestandenen oder abgebrochenen.
  2. Mangelnde Studienmotivation:
    Das Studieren bereitet kaum Freude, sondern fühlt sich überwiegend anstrengend an.
  3. Keine Begeisterung für das Fach:
    Idealerweise ist von Anfang an kein Interesse für die Inhalte des Studienfaches vorhanden. Alternativ baut sich das ursprüngliche Interesse im Verlauf des Studiums zügig ab und verschwindet weitgehend.

In den meisten Fällen verstärken sich die Faktoren 2 und 3 dabei gegenseitig und bewirken in der Folge gemeinsam den Faktor 1.

Ein häufiges Missverständnis betrifft den Erwerb eines akademischen Abschlusses: Dieser ist sehr wohl mit einem weitgehenden Studien-Misserfolg vereinbar.

Was also ist zu tun, um einen zufriedenstellenden Studien-Misserfolg zu erreichen?

1. Bildungsanstrengungen vermeiden!

Nach Aristophanes gilt seit Jahrtausenden das gleiche Prinzip: "Bildung bedeutet nicht, ein Gefäß zu füllen, sondern, ein Feuer zu entfachen". Es geht also nicht um Wissenserwerb, sondern um Begeisterung; aus der ergibt sich alles weitere.

Die Begeisterung entsteht dadurch, dass man die Schönheit des Faches empfindet, eine Faszination für seine Gedankengebäude verspürt -- und davor die nötigen Anstrengungen unternimmt, um so viele Zusammenhänge im Fach zu verstehen, dass man an diese Punkte gelangt (und dann sehr scharf auf den Kick wird, den das jeweils nächste Aha-Erlebnis verursacht).

Diese auf Zusammenhänge gerichteten Anstrengungen gilt es für einen befriedigenden Studien-Misserfolg also zu vermeiden. Das ist leicht mit Anstrengungen und Angestrengtheit zu vereinbaren, indem man sich ganz auf den Erwerb von Leistungspunkten konzentriert und dabei allenfalls ein moderates Füllen des Gefäßes als schwer vermeidbare Nebenwirkung hinnimmt.

Kurz gesagt:
  • Bildungsanstrengungen: Nein
  • Leistungspunkterwerbsanstrengungen: Ja
  • Wissenserwerbsanstrengungen: Wenn's sein muss

2. Unterhaltungsmedien nutzen!

Eines der klarsten Ergebnisse aus jahrzehntelanger Didaktikforschung besagt, dass sowohl der Bildungs- als auch der Wissenserwerbserfolg steil mit dem Grad studentischer Aktivität ansteigt. Für einen verlässlichen Studien-Misserfolg gilt es also, die Aktivität auf das Minimum zu reduzieren, das zum Erwerb von Leistungspunkten jeweils nötig erscheint. Jegliche darüber hinausgehende Aktivität ist heikel und deshalb unbedingt zu vermeiden.

Am verlässlichsten gelingt das durch Gewöhnung: Ist man an geringe Eigenaktivität gründlich genug gewöhnt, werden Ausrutscher hin zu mehr Aktivität im Studienbetrieb selten sein und die Verlässlichkeit des Studien-Misserfolg ist dementsprechend gut gesichert.

Doch wie gewöhnt man sich an geringe Eigenaktivität?

Das beste bekannte Verfahren ist der übermäßige Gebrauch von Unterhaltungsmedien. Ob Lesen, Hören oder Schauen: Jeder Modus funktioniert. Hochwertigen Inhalten (etwa guter Literatur oder guten Blogs) sollte man dabei eher aus dem Weg gehen: Sie sind oft anregend. Ramsch und Massenware aller Arten eignet sich hingegen gut.

Am verlässlichsten und bequemsten funktioniert Binge-Watching. YouTube und Netflix sind gewissermaßen die heiligen Hallen der Aktivitätsentwöhnung: Hier kann man Stunden seines Lebens mit einem Minimum an eigener Aktivität durchbringen. Der große Vorteil gegenüber anderen Medien: Die so erworbene Haltung lässt sich ohne nennenswerte Verluste direkt ins Studium übertragen: "Ich bin ein Rieselfeld. Ich bin einfach da und lasse mich berieseln."

3. Ungesunden Lebensstil ausschöpfen!

Neben einem Absenken der Aktivitätsbereitschaft (siehe Tipp 2) ist auch ein Absenken des allgemeinen Energieniveaus (Motivation, Konzentrationsfähigkeit etc.) hilfreich, um den Studien-Misserfolg zu sichern und ein versehentliches Abrutschen in Bildung zu vermeiden.

Das ist mit wenigen einfachen Techniken leicht zu bewerkstelligen:
  • Wenig schlafen! Schlafenszeiten ständig wechseln!
  • Schlecht ernähren! Wasser und frische Lebensmittel meiden! (Erst eine stundenlang unter der Wärmelampe aufbewahrte Pizza ist eine gute Pizza!)
  • Wenig Bewegung! Kein Sport!
  • Stark negative Gedanken regelmäßig wiederholen (z.B. vor dem Einschlafen)!
  • Soziale Kontakte meiden! Einigeln! Nicht lachen!

Sehr gut daran ist auch: Die Anwendung dieser Techniken ist nicht auf die private Zeit beschränkt; sie sind auch in den Hochschulbetrieb bestens integrierbar. Beispielsweise führt bei Lehrveranstaltungen mit Videokonferenz ein Abschalten der Kamera, kombiniert mit hartnäckigem Schweigen, zuverlässig und effizient zur Vermeidung sozialer Kontakte, die andernfalls eine hohe Gefahr von erhöhter Motivation, Aha-Erlebnissen oder anderen schädlichen Wirkungen bergen würden.

4. Sich Banalität, Langeweile und Irrelevanz einreden!

Für diejenigen Studierenden, die ihr Fach nur aus Erwägungen des Broterwerbs gewählt haben, ohne Interesse am Fach selbst, sind die obigen Hinweise in aller Regel völlig ausreichend. Eine einigermaßen ordentliche Befolgung wird recht verlässlich zum Studien-Misserfolg führen.

Für Studierende, die sich zu Studienbeginn für ihr Fach interessiert haben, ist die Lage hingegen etwas schwieriger: Interesse ist der Keim für Begeisterung, Begeisterung ist der Treiber für Bildung und Bildung ist der Feind von Studien-Misserfolg.
Aber glücklicherweise gibt es ja Enttäuschungen: Das Studium ist gar nicht genau so, wie man vorher (vage) erwartet hatte!

Diese Abweichungen sind der Schlüssel. Überall, wo die intellektuellen Siege eines vollen Verständnisses für ein anspruchsvolles Thema nur schwer zu erringen sind, kann man sich mit der Abwertung des jeweiligen Themas behelfen: Thema A ist banal; Thema B ist langweilig; Thema C hat keine praktische Relevanz.

Und schon sind zwei Dinge erreicht:
  • Man kann das jeweilige Thema (motivationsmäßig gesehen) abhaken, ohne es zu durchdringen und
  • das Fach als Ganzes hat an Glanz verloren.
Nach wenigen Runden der Anwendung dieses Verfahrens ist dann der Weg frei für ein ganz an Leistungspunkten orientiertes Studium, das keine Begeisterung mehr verlangt und den Weg zu einem effizienten Studien-Misserfolg freimacht.

Wie viele Anwendungen braucht man? Das hängt von der Auswahl der Themen ab: Bei unwichtigen Themen entsteht natürlich auch nur ein schwacher Schaden für das Fach im Ganzen. Man sollte das Verfahren also tunlichst auf wichtige Kernideen des jeweiligen Faches anwenden, sozusagen auf die Kronjuwelen.

Anregungen für solche Angriffspunkte für diverse Fächer finden sich im Anhang.

Anmerkung: Da grundsätzlich jedes Studienfach hoch interessant ist, sind die meisten dieser Angriffe bei Licht betrachtet lachhaft. Sich von der Restbegeisterung für ein Fach zu befreien ist also gegebenenfalls alles andere als einfach -- hoffentlich hatte man also gleich von vornherein ein Fach gewählt, das einen nicht interessiert!

Umsetzungstipps

Die obigen Regeln beschreiben allgemeine Prinzipien. Hier noch ein paar Hinweise zur konkreten Umsetzung in den Studiumsalltag:
  • Zeitdruck erzeugen: Es ist wertvoll, mit allem (dem Lernen allgemein, dem Bearbeiten von Übungsblättern usw.) stets bis zum letzten Moment zu warten. So ist erstens eine gute Erledigung viel schwieriger, zweitens eventuellen Begeisterungsmomenten die Zeit zur Entfaltung genommen und drittens eine gute Grundlage für wertvolle Frustrationserlebnisse geschaffen.
  • Unfreiwilligkeit genießen: Es ist wichtig, die Tatsache, dass man ein Studium (und somit natürlich auch seine Elemente) freiwillig absolviert, gründlich zu verdrängen. Die richtige Wahrnehmung ist: Hier ist alles voller Zwang! Stoff: Aufgezwungen! Übungszettelinhalte: Aufgezwungen! Stundenplan: Aufgezwungen! Abgabetermine: Aufgezwungen! Klausurtermine: Aufgezwungen!
  • Sklavische Umsetzung von Vorgaben: Bitte keine Eigeninitiative und keine eigenen Gedanken, wie etwas sinnvollerweise zu erledigen sein könnte. Legen Sie jede mündliche Aussage in jeder Vorlesung und jedem Tutorium absolut wörtlich aus. Genauso mit Übungsaufgaben und Klausuraufgaben: Man darf sich nicht den kleinsten Interpretationsspielraum lassen; alles ist absolut und mit völliger Präzision so zu verstehen, wie es dasteht. Sie sind nicht hier, um zu denken, sondern um zu gehorchen.

Wer sich diese einfachen Methoden stündlich in Erinnerung ruft und konsequent einsetzt, braucht sich um seinen Studien-Misserfolg keine Sorgen mehr zu machen.

Warnungen

So leistungsfähig die oben beschriebenen Ansätze auf dem Weg zu einem Studien-Misserfolg auch sein mögen: Es ist wichtig, die folgenden zwei Störgrößen unterwegs sorgfältig auszuschließen, die andernfalls den angestrebten Studien-Misserfolg im Nu zunichte machen könnten.

Unterstützungsangeboten aus dem Weg gehen!

Die ganze Palette von an der Hochschule verfügbaren Unterstützungsangeboten, von der simplen Sprechstunde engagierter Dozent_innen, über Formate der Fachschaften und anderer Initiativen, bis hin zu institutionalisierten Mentoring-Angeboten und ähnlichem birgt bei jedem einzelnen Kontakt die Gefahr, größere Taschen verborgener Motivationsressourcen freizulegen, die einen effizienten Studien-Misserfolg zumindest beeinträchtigen, wenn nicht sogar verhindern könnten.
Also Vorsicht!

Aha-Erlebnisse unbedingt vermeiden!

Jede fachliche Lehrveranstaltung bringt die Gefahr mit sich, durch eine plötzliche Einsicht (die bekanntlich massenhaft Endorphine ausschüttet) ein Aha-Erlebnis hervorzurufen, das Begeisterung für das Fach weckt.
Größte Vorsicht!

Besonders heikel sind dabei Veranstaltungen von Dozent_innen oder Tutor_innen, die gut und engagiert erklären und dabei selbst ebenfalls mit Begeisterung bei der Sache sind.

Einigermaßen verlässlich abwenden lässt sich die Gefahr nur durch das konsequente Vermeiden von Mitdenken -- deshalb sind die obigen Tipps 2 und 3 so wichtig; am besten in Kombination.

Dann jedoch kann es eigentlich kaum noch klappen. Ich wünsche guten Studien-Misserfolg!

Anhang: Beispiele für Autosuggestionsthemen zu Banalität, Langweiligkeit, Irrelevanz des Studienstoffes

Bioinformatik:
Dass die DNA den kompletten Bauplan für einen ganzen Organismus enthält ist banal; dass nur bioinformatische Algorithmen die Bestimmung einer DNA-Sequenz ermöglichen, ist langweilig; dass man auf dieser Basis biologische Vorgänge umprogrammieren kann, ist in der Praxis irrelevant.

Informatik:
Dass kein Algorithmus für jeden anderen Algorithmus berechnen kann, ob jener jemals anhält (Nichtberechenbarkeit des Halteproblems) ist banal; die Architektur und Funktionsweise eines modernen Mikroprozessors (mit Caches, Pipelining, Sprungvorhersage, spekulativer Ausführung, mehreren Kernen und Cache-Kohärenz) ist langweilig; dass Meinungsverschiedenheiten in Softwareteams oft durch Persönlichkeitsunterschiede zu erklären sind und nicht auf der Ebene der jeweiligen Sachfrage gelöst werden können, ist in der Praxis völlig irrelevant.

Mathematik:
dass Grenzübergänge erlauben, unendlich umfangreiche Berechnungen in einem einzigen Schritt exakt durchzuführen, ist banal; dass die reellen Zahlen die gleiche algebraische Struktur aufweisen wie ein endlicher Körper mit 5 Elementen ist langweilig; dass sehr viele gut verstandene praktische Berechnungsprobleme nicht exakt gelöst werden können, sondern nur numerisch, weil analytische Lösungen nicht bekannt sind, ist in der Praxis irrelevant.

Ergänzungen für weitere Fächer gern per Email an prechelt@inf.fu-berlin.de


# ironie: aus

Unironische Fußnote: Depression

Das Obige ist für gesunde Studierende hoffentlich lustig und motivierend. Für Studierende mit einer depressiven Störung aber nicht.

Falls Sie feststellen, dass Sie die meisten der obigen Ratschläge trotz guten Willens nicht in umgekehrt befolgen können, dann haben Sie vielleicht eine solche Störung. Bitte suchen Sie Hilfe, z.B. bei der psychologischen Beratung der FU oder bei Ihrer Hausärzt_in.


Änderungen:
  • 2020-05-23: Erster Entwurf (ca. 90% fertig)
  • 2020-10-29: Erste veröffentlichte Version
  • 2020-10-30: Fußnote zur Depression zugefügt
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